Introvertiertheit widerspricht dem Zeitgeist. Unsere Gesellschaft huldigt dem perfekten Image, endloser Kommunikation, dem Personenkult und der Selbstdarstellung in den sozialen Netzwerken, der Gesprächigkeit und einer wahren Flut von Reizen. Wer mithalten will, braucht Charisma, soziale Kompetenz, Rhetorik – kurz gesagt: Extravertiertheit auf allen Ebenen!
Dieser gesellschaftliche Trend hat seinen Ursprung in der audiovisuellen Welt der US-Serien, in denen die Wohngemeinschaft, der Gral des Zusammenlebens zu jedem Preis, ebenso in Szene gesetzt wird wie das redselige Individuum. Er geht ausserdem von den renommierten Eliteschulen aus, die auch schon als «spirituelle Institution der Extravertiertheit» bezeichnet wurden.
Das Wort «introvertiert» weckt eher negative Assoziationen.
Den Begriff verdanken wir Carl Gustav Jung, der damit eine Person charakterisierte, die sich ihrem Innenleben zuwendet. Extravertierte suchen den sozialen Kontakt, wogegen Introvertierte Kraft aus dem Alleinsein schöpfen.
Auch im beruflichen Umfeld stehen Introvertierte nicht allzu hoch im Kurs. Zahlreiche Klischees machen ihnen das Leben schwer, denn auch im modernen Unternehmen ist alles auf Extravertiertheit ausgelegt: Grossraumbüros, Meetings ohne Ende, Team Building, Lunch und After Work, Events aller Art und natürlich das unumgängliche Networking – alles Rituale, die den Extravertierten zusagen.
Doch in deren Schatten schreiten die Introvertierten unbemerkt voran. Sie suchen weder Macht noch Rampenlicht, sondern unauffälligen Erfolg. Als Verkörperung des Erfolgs gilt gemeinhin die Suche nach dem Adrenalinrausch oder ein forcierter Wettlauf mit Ziel, Herausforderung und offensivem Handeln. Über zurückhaltende, sensible Menschen hingegen kursieren vielfältige Vorurteile. Die Unternehmen werden damit wichtiger Qualitäten beraubt, die für die unberechenbare wirtschaftliche Realität von heute Gold wert sein können.
Doch welchen Beitrag leisten Introvertierte im Beruf?
Zu den Stärken introvertierter Menschen zählen Konzentration und analytisches Denken, die Fähigkeit zum Einordnen und Beobachten sowie Einfühlungsvermögen. Damit sind sie bestens dafür gerüstet, ein Team sicher durch Turbulenzen zu führen.
Die Introvertierten können also schwungvoll zurückschlagen!
Sie sind raffinierte Strategen, und bei Verhandlungen erweist sich ihre Zurückhaltung als Stärke. In der grossen Runde melden sie sich selten, aber durchdacht zu Wort. Sie sind bescheiden und zeichnen sich durch einen Führungsstil aus, der bei der jüngeren Generation Anklang findet, weil er partizipativ geprägt ist und auf der Bereitschaft zum Delegieren und zum Dialog sowie auf Empathie beruht.
Entgegen einer weit verbreiteten Meinung schaffen Introvertierte mit ihrem zurückhaltenden Charisma eine authentische, nachhaltige Bindung zum Team, denn mit ihrer ruhigen Stärke vermitteln sie ein Gefühl der Sicherheit. Introvertierte sind ausdauernd, gehen den Themen auf den Grund und halten sich nicht mit Belanglosigkeiten auf. Mit aufmerksamem Zuhören fördern sie andere Menschen in ihrer Entwicklung. Ihre Leadership gleicht dem musikalischen Dirigieren: Sie mobilisiert, eint und fördert ein harmonisches Zusammenspiel.
Wer introvertiert ist, hat somit eine schöne berufliche Zukunft vor sich und kann sich glücklich schätzen – davon bin ich als Introvertierte mehr als überzeugt!
Frédérique Bleyzac