Wohlwollen im besten Sinne ist eine eigentliche Lebensphilosophie und zeichnet sich dadurch aus, dass man anderen Menschen mit Verständnis und Nachsicht begegnet.
Lange galt Wohlwollen als menschlicher Wert und als Tugend in Beziehungen. In diesem Jahrhundert ist eine neue Facette hinzugekommen: Wohlwollen bedeutet auch «Wohlfühlen», «zusammen erleben». Wir sprechen in diesem Fall von einer Haltung, die einladend, nicht wertend und offen für unterschiedliche Meinungen ist.
Gleichzeitig kämpft die Arbeitswelt mit einer beispiellosen Krise: Unwohlsein im Beruf, allgemeine Demotivation auf allen Ebenen des Unternehmens, das von den organisatorischen Prozessen überrollt wird und extreme Formen des Leidens an der Arbeit hervorbringt.
Nun hat das Wohlwollen auch im Management Einzug gehalten. Es wird gerne als Patentrezept und wahrer Segen verkauft und ist in der Managementliteratur allgegenwärtig. Wohlwollen ist weit mehr als eine Einstellung und etablierte sich 2018 als das Leitkonzept schlechthin. Geschafft… das Unternehmen ist gerettet!
Mit kommerziellem Rückenwind verlässt das Wohlwollen die existenzielle Sphäre der menschlichen Qualitäten und erobert die PR-Abteilungen der Unternehmen!
Kurzum: Wohlwollen wird zu einem nicht verhandelbaren Gebot für alle, die eine Führungsrolle für sich beanspruchen. Nun gilt es als das Nonplusultra der sozio-emotionalen Kompetenzen, und jeder Manager, der diesen Namen verdient, muss diese Qualität gegenüber seinem Team demonstrieren.
Alles klar – aber wie ist man denn in der Praxis und in der operativen Realität überhaupt wohlwollend? Das erfahren Sie, wenn Sie ohne Ausrede das ultimative Privileg in Anspruch nehmen: eine hochkarätige Ausbildung in wohlwollender Leadership.
Einige Jahre später ist die Realität ernüchternd: Das Leiden am Arbeitsplatz nimmt weiter zu, wovon eine wahre Explosion der Burnout-Fälle zeugt. Gleichzeitig dürfen Führungskräfte unter dem Vorwand des Wohlwollens ihren Mitarbeitenden nicht mehr widersprechen, da sie sonst Gefahr laufen, verurteilt oder mit Mobbing-Vorwürfen konfrontiert zu werden. Das #metoo der Arbeitswelt, sozusagen!
Schlimmer noch, exzessives Wohlwollen verbietet jede Form von Mut in der Führung – eine schmerzlich notwendige Eigenschaft, die noch viel zu wenig geschätzt wird. Das Prinzip des Wohlwollens wird überstrapaziert und banal. Letztendlich wird übertrieben praktiziertes Wohlwollen zur Gefälligkeitssucht.
Echtes Wohlwollen hingegen, das ein Gegenüber wachsen lässt und ein heilsames Hinterfragen ermöglicht, gibt es nur, wenn man vor einer Konfrontation nicht zurückschreckt, unterschiedliche Meinungen zulässt und Einwände annimmt. Konfrontation ist nicht dasselbe wie Konflikt.
Bedeutet echtes Wohlwollen nicht vielmehr, Widerspruch zuzulassen und dadurch erst Fortschritte zu ermöglichen?
Frédérique Bleyzac